Fields of Gold. Die Sprache der Musik entdecken. Von Peter Otten
Vor ein paar Wochen im Speyerer Dom. Es ist Sonntag. Die Messe hat gerade begonnen. Ein Chor ist zu Gast, aus Herford. Um die hundert Frauen und Männer haben hinter dem Altar Position bezogen.
Leise kriechen die ersten Töne aus der Orgel hervor, so als hätten sie verschlafen. Dann kommt der Chor, sachte und irgendwie freundlich klingt das. „Kyrie eleison“, singen sie. Herr, erbarme dich. Die Töne wachsen in der großen Kirche, steigen auf wie eine Wolke, vermischen und verteilen sich. Jean Langlais hat das komponiert, wird mir am Schluss eine der Sängerinnen sagen. Ein Franzose, einer der experimentierfreudigsten Komponisten und Organisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie ich später lese. „Christe eleison“. Mit zwei Jahren wurde Langlais blind, ein Glaukom, Grüner Star war die Ursache. Die Orgel schreit auf, stöhnt, ruft, schreit. „Christus, erbarme dich.“ Der Organist „pöhlt“ dazwischen, so würde es vielleicht Jürgen Klopp ausdrücken. Der Chor springt hinterher, beschwörend, frohlockend, aber immer wieder singt er dunkle Wolken in den Jubel, dissonant, schwer. Dampf ablassen, danach klingt das, Druck aus dem Kessel lassen, dieser Gesang ist kein unbeschwerter Jubel, eher Aprilwetter.
Die ersten KirchenbesucherInnen stehen auf, treten aus den Bänken und gehen. Vielleicht ist es zu viel für sie. Der beeindruckende erhabene romanische Raum. Die frische Sonntagssonne, die von draußen in den Dom strahlt. Frisch gewaschene Sonntagsgesichter und gestärkte Hemdkrägen. Und dann dieser schwere Gesang, der davon erzählt, dass es alles irgendwie nicht so einfach ist mit Gott. Im Kyrie geht es darum, Gott zu begrüßen und ihn darum zu bitten, dass er bitte, bitte Erbarmen mit der Erde, mit den Menschen hat. Die einander Stöcke zwischen die Beine werfen und sich das Leben schwer machen. Die sich nicht immer feierlich und rücksichtsvoll verhalten, zickig und intrigant sein können. Sich trotzdem freuen, dass sie leben dürfen, miteinander feiern und beten. Die ganze Widersprüchlichkeit der Menschen, auch meine eigene, wie ich bestürzt merke, steigt gerade mit der Musik durch den Raum, liegt im leichten Vibrieren der Bänke, als die Orgel Vollgas gibt. Wahnsinn, denke ich, die Musik ist ein Spiegel. Es ist so, als betrachtete ich mich, als betrachteten sich alle Menschen, die heute Morgen hier sind, im Spiegel. Die Musik beschreibt das: Meine Situation, die der anderen Menschen und die Situation zwischen uns und Gott. Und die ist heute irgendwo zwischen tosendem Jubel, großer Betrübnis und leiser Scham. Du hast alles richtig gemacht, Jean Langlais, entfährt es mir leise. Du hat alles richtig gemacht.